Rezension

Cover: 1793

1793

Erscheinungstermin:

Rezension von

Sebastian B, Rezensent*in

Krimifans kennen Stockholm bereits als vermeintliche Hochburg des Verbrechens, denn in Europa wird die schwedische Hauptstadt wohl nur noch von London überboten, was die Häufigkeit der Wahl als Schauplatz eines Kriminalromans angeht. Trotzdem dürften selbst routinierte literarische Stockholm-Reisenden geschockt davon sein, wie brutal und menschenfeindlich der gebürtige Stockholmer Niklas Natt och Dag seine Heimatstadt in seinem Debütroman "1793" porträtiert. Wie der Titel des Buches aber bereits andeutet, spielt die Geschichte hier nicht im Schweden der schreibenden Generation von Henning Mankell, John Ajvide Lindqvist oder Vivica Sten, sondern Ende des 18. Jahrhunderts – zu einer Zeit, in der Elend und Gewalt in Stockholm regieren.

Das zeigt sich bereits auf den ersten der knapp 500 Seiten dieses Romans, wo die fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche eines Mannes aus dem Fatburen, einem zur Kloake verkommenen kleinen See Stockholms, geborgen wird. Arme und Beine des Toten wurden ebenso entfernt wie dessen Zunge, geblieben ist nur ein jämmerliches und mit Exkrementen bedecktes Bündel Fleisch. Auch wenn zu dieser Zeit die wenigsten an einer Aufklärung von Verbrechen wie diesem interessiert sind, wird der Jurist Cecil Winge mit dem Fall beauftragt und soll herausfinden, wer der Tote war und wer für dessen grässliches Ende verantwortlich ist. Bei seinen Ermittlungen setzt er auf die Hilfe des Stadtknechtes Jean Michael "Mikkel" Cardell, der die Leiche aus dem Wasser gezogen hat und den der entsetzliche Anblick der Überreste nicht mehr loslässt.

Eine eindringliche Warnung vorweg: "1793" ist keine Lektüre für zartbesaitete Gemüter und ist nicht gerade an die Zielgruppe gerichtet, die gerne mal im zwar häufig teilweise düster dargestellten, aber doch oft etwas romantisierten Skandinavien auf literarische Verbrecherjagd geht. Stattdessen wirkt die schwedische Hauptstadt hier, als hätte man die Tore zur Hölle geöffnet und alles Schlimme dieser Welt über einem einzigen Fleckchen Land ausgeschüttet. Das Stockholm des Jahres 1793 ist dreckig, obszön, dunkel, blutig, grausam, kalt und stinkt bis zum Himmel und bis auf ein paar wenige besser betuchte, die sich in prunkvollen Anwesen verschanzen und dort vor den Auswirkungen der Französischen Revolution fürchten und um ihre Macht und ihren Luxus zittern, gibt es eigentlich niemanden, der in dieser Stadt ein menschenwürdiges Leben führen kann.

Das gilt auch für die Hauptfiguren dieses Romans, von denen hier in erster Linie die bereits erwähnten Cecil Winge und Mikkel Cardell aufgeführt seien. Ersterer scheint als zwar unbequemer, aber durchaus angesehener Jurist eines der wenigen besseren Lose gezogen zu haben, allerdings leidet Winge unter Tuberkulose im Endstadium und quält sich zumeist entkräftet und Blut hustend durch die Geschichte, sodass man im ständigen Zweifel ist, ob dieser das nächste Kapitel noch erlebt. Dagegen wirkt der versehrte Kriegsveteran Cardell mit seiner plumpen Armprothese fast schon wie ein Quell des Lebens, wobei der desillusionierte Stadtknecht alles dafür tut, seiner Existenz mit einem unkontrollierten Alkoholkonsum ein ähnlich frühes Ende zu setzen wie es seinem todkranken Mitstreiter droht – was man ihm aber kaum zum Vorwurf machen mag, denn wie sonst sollte das Dasein in dieser Stadt der Verdammten noch zu ertragen sein?

Neben diesem unglückseligen Duo gibt es aber noch weitere Charaktere in vorderster Front, die im viergeteilten Verlauf der Handlung ihre eigenen Geschichten erzählen, die alle eines gemeinsam haben: sie sind erschütternd, brutal und hoffnungslos und sollte es doch mal einen unerwarteten Lichtblick zwischen all dem Müll, dem Blut und den Exkrementen geben, so wird das zarte Pflänzchen der Hoffnung nur wenige Seiten später mit umso größerer Wucht zertreten und herausgerissen. Nun könnte man daraus den Eindruck entwickeln, "1793" sei ein billiger Folter-Porno für Sadisten, Niklas Natt och Dag hat neben den Schockeffekten aber auch eine clever konstruierte Geschichte zu bieten, bei der sich die nacheinander erzählten Einzelteile aus verschiedenen Perspektiven letztlich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Darüber hinaus sorgt sein Roman nicht nur für abstoßende Emotionen, sondern hat zwischendurch auch immer wieder feinfühlige und rührende Momente, die für den ein oder anderen Kloß im Hals sorgen – eine Achterbahn der Gefühle, bei der es allerdings meistens eher bergab geht.

"1793" wird die Leserschaft sicherlich spalten, dafür sind viele Teile des Werkes einfach zu abstoßend, zu verstörend und zu schwer zu ertragen. Ähnlich wie Mikkel Cardells Sprung in den Kot-durchtränkten Fatburen-See zur Bergung der Leiche kostet auch das Eintauchen in diese Lektüre einiges an Überwindung. Wer den Ekel ablegt bekommt dann aber eine fesselnde und auch bewegende Geschichte mit spannenden und vielschichtigen Charakteren geboten und erlebt ein emotionales Drama, das in den besten Momenten an Victor Hugos Klassiker "Les Misérables" erinnert – wenn auch in einer deutlich schmutzigeren und böseren Version.

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